Stellt man sich das Leben wie ein langes Diner mit einem grossen Buffet vor, so kann man aus verschiedenen Blickwinkeln an die Sache herangehen. Für die einen wäre es wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, wie viel es kostet, welche Kalorien dort wie verpackt sind, wie viel man bekommt im Vergleich mit anderen, ob man sich erlauben darf nachzufassen, dass man wohl schnell sein muss, sonst ist alles Gute weg usw. Und am Ende zählt nur, was auf dem Teller gelandet ist.
Die Andere würden sich dafür interessieren: Wer hat das gekocht? Worauf habe ich gerade Appetit? Möchte ich etwas probieren, das ich noch nicht kenne? Wie sind die Speisen angerichtet? Welche Geschichten stecken hinter den Rezepten? Wo im Raum ist das Buffet angerichtet? Mit wem möchte ich denn gemeinsam essen? Habe ich denn Hunger?
Der eine Blick geht eher auf das Ergebnis, der andere stellt den Weg in den Vordergrund. Wenn die Menschen zu uns Ärzten kommen, ist vom Buffet ihres Lebens oft schon viel aufgegessen. Übergewichtige haben zudem Mühe, sich daran zu erinnern, was, wann und wie gegessen wurde. Zu sehr ging es darum, einfach möglichst gut satt zu werden. Gleichzeitig sind diese Menschen immer auch damit beschäftigt, nicht zu viel zu essen und tun es trotzdem. Dieser innere Widerspruch hat damit zu tun, dass viele Menschen vor lauter Kalorien- und Schrittezählen verpassen, auf ihr inneres Empfinden zu hören. Dort geht es aber bei weitem nicht so klar und gesittet zu, wie auf der Smartphone-App. Empfindungen können unterschiedliche Quelle haben: Was meint nun diese Leere in der Bauchgegend noch gleich? Hunger? Durst? Einsamkeit? Was mache ich mit dem Kloss im Hals? Weine ich, rede ich darüber oder spüle ich es mit einem Cola runter?
Eine Zuordnung der Empfindungen zu ihren Ursprüngen fällt vielen Menschen schwer. Es braucht Training, sich selbst gut genug zu verstehen, damit man nach dem streben kann, was man braucht. Und um sich selbst wiederum zu verstehen, müssen wir uns für die eigene Lebensgeschichte interessieren, denn die Person, die wir momentan sind, sind wir ja auf irgendeinem Weg geworden. Wenn man versteht, welchen Weg man gehen musste und wie man diesen versucht hat, zu bewältigen, kann man auch das Übergewicht in seiner Sinnhaftigkeit besser verstehen. Die meisten Menschen sind gewohnt, dieses Problem aktiv anzupacken und wie mit einer Checkliste zu arbeiten: 1. Gut Frühstücken 2. Meditation über das eigene Dasein 3. Arbeiten 4. Mittagessen 5. Yoga 6. Erholung, alles wiederholen. Es ist recht anstrengend und vielleicht beengend, sich in ein solches Programm eingesperrt zu fühlen. Wem kann man es da verdenken, sich mit einem Snack zu stärken oder zu trösten? Vielleicht möchte man mit dem Körperfett auch rebellieren gegen das Gefühl eingesperrt zu sein in einen Käfig aus Erwartungen.
Der Fokus auf das reine Ergebnis und dem aktiv-tätigen Erreichen desselben bringt uns dem Verständnis eines Sinns jedoch nicht näher. Etwas anderes ist es, sich in eine Passivität fallen zu lassen, die es möglich macht überhaupt wahrzunehmen, wohin es einen zieht, was einen anmacht oder abstösst. Dafür muss man sich in die Position des ziellosen Flaneurs begeben, der ohne Ziel durch die Gegend wandert, dahin, wo es einen gerade hinzieht. Einem Zuruf folgend, einen seltsamen Weg erkundend, der kleinen Gasse nach, die komisch riecht, in den Keller hinab, vor dem man Angst hat, einem Kribbeln im Bauch folgend oder einem Jucken an der Nasenspitze. Gerade die Angst kann ein guter Wegweiser sein. Das hat mit einem Missverständnis zu tun, das das Verzichten betrifft. Bei dem Versuch abzunehmen, setzen die meisten Menschen auf den Verzicht. Man verzichtet auf Süssigkeiten, Chips, Süssgetränke, aber man verzichtet nicht darauf, das immer Gleiche zu tun. Wie in einem Ritual wechseln sich die Phasen von Diät und Gewichtszunahme ab. Das ist zwar schlecht für die Gesundheit, aber immerhin kennt man es schon. Immer schaut man darauf, welches Ergebnis wohl dabei herauskommt, wenn ich dies oder das tue. Hier auf die Sicherheit zu verzichten, dass man genau weiss, wo man am Ende herauskommt, ist viel schwieriger. Man muss also auf den Trost des Rituals des immer Selben verzichten und riskieren, sich ordentlich zu verlaufen. Es gehört zu den Widersprüchen des Lebens, dass man auf dem Weg eines hingebungsvollen Verirrens auf einen Fremdenführer angewiesen ist. Solche Fremdenführer sind zum Beispiel Psychoanalytiker, wie ich es einer bin.
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